Wanderung 3: (25.10.2017)

18 km von Blankenstein bis Nordhalben

Er hatte ihnen erzählt, dass man sie nur am Mittwoch würde retten können und man solle warten, bis der dichte thüringische Nebel sich verzogen hätte, denn nur so könne man den Zworgensen entkommen!

So standen sie an diesem Morgen besonders früh auf und wurden von den Markentendern, die sie von ihrer Absicht informiert hatten, besonders ausgiebig und liebevoll versorgt. Denn auch sie wollten für den Stamm der Kiju alles tun, damit deren gefahrvolle Mission durch einen Erfolg gekrönt werden würde. Der Abschied war irgendwie anders als sonst, alle überspielten ihre ernste Miene mit einem manchmal doch eher verzerrt wirkenden Lächeln. Doch sie mussten die Gunst der Stunde nutzen und so zogen sie nicht wie sonst mit lautem Abschied, sondern in aller Stille ab.

Wie der Altvater angekündigt hatte, waren die letzten Tage im Oktober die besten, denn der Nebel war schon aufgezogen und als wolle er sie unterstützen, schien er die Schritte der großen Gruppe zu verschlucken. So schlichen sie fast lautlos durch den Wald, wohl wissend, dass ihrer noch große Gefahren lauern würden.

Vielleicht sollte der geneigte Leser wissen, dass der Altvater lange nach dem Stamm der Kiju gesucht hatte, denn er galt in der Thüringa als der wildeste Stamm und die Prüfungen, die aus Kindern Männer oder Frauen machten, waren die schwersten, die auch heute man sich vorstellen kann. Und so waren sie dem Ruf des Altvaters gefolgt und durch die letzte Prüfung zum größten aller Stämme zu werden.

Feuchtigkeit durchdrang ihre Kleidung, als sie unverdrossen den steilen Anstieg emporstapften. Urplötzlich zischte Matthandus der Pfadfinder des Stammes durch seine Zähne und sofort sackte jeder der Kiju auf der Stelle zusammen. Sie hatten das Lager der Zworgensen erreicht.

Die Zworgensen waren ein uraltes Volk und sehr kleinwüchsig, doch verfügten sie über die alte Macht des Zauberns und konnten sich so alle Wesen des Waldes untertan machen. Immer waren sie der Menschen freund gewesen, denn ihr Wesen kannte kein Falsch. Doch als Könige zu Diktatoren wurden und versuchten sich ihr Wissen durch Hinterlist und Tücke und als das nichts half durch Gewalt anzueignen, waren die Zworgensen plötzlich verschwunden und wer als Mensch den Wald aufsuchte, fand oft nicht mehr zurück und bis in alle Zeiten konnte man seine Rufe im Wald erklingen hören.

Doch heute sollte es wohl gelingen, denn der Nebel war schon immer ein rechter Freigeist gewesen. Er ließ sich von niemandem, auch nicht von den Zworgensen, in seine Schranken verweisen und nie würde er sich einem Herrn unterstellen. Zwischen seinen Schwaden konnte man verschwommen das Dorf der Zworgensen erkennen, es war, als wäre ein Dorf in Thüringa geschrumpft worden. Aber ein jeder wusste, dass dieser Schein trog und niemand wollte den Rest seines Lebens verwirrt im Wald verbringen.

So schlichen sie auf Zehenspitzen im weiten Bogen um das Dorf herum und wurden tatsächlich von den Zworgensen, die vom Nebel verwirrt wurden, nicht entdeckt. Als alle erleichtert aufatmen wollten, gebot ihnen Matthandus Einhalt. Bärbelanda, eine Weise aus dem Sieglandus, die ihr großes heilerisches Wissen immer zum Wohle des Stammes eingesetzt hatte, war verschwunden. Nur schwer konnte der Stamm seinem Entsetzen Ausdruck geben, denn immer noch durfte kein Laut aus ihren Reihen ertönten. Lange diskutierten sie, wie man Bärbelanda helfen könnte, bis sich einer der Mutigsten meldete und bereit war, die Heilerin zu suchen. Er war bekannt als Nicolalalas und jeder lächelte, wenn er ihn sah. Nicolalalas hatte als Jäger schon die gefährlichsten Tiere gejagt und war überzeugt, dass nur seine farbenfrohe Kappe, die wie eine zweite Haut seinen Kopf umfing, die Ursache seines Jagdglückes war. Schnell bewegte sich Nicolalalas wie ein Schemen durch den Wald und verschmolz mit der Natur. Nur kurze Zeit später kam er zurück, denn er hatte die Heilerin entdeckt. Bärbelanda war in eine Falle gelaufen und stand bewegungslos vor dem Dorf der Zworgensen. Nicolalalas sah keine Chance, sie zu befreien und ihr Auftrag war zu wichtig, als dass sie ihn durch eine wagemutige Befreiungsaktion hätte gefährden dürfen.

So zogen sie mutig weiter, aber in ihren Seelen drang die Trauer um eine gute Freundin, von der keiner wusste, ob man sie je wiedersehen würde. Mussten sie zuvor wegen der Bedrohung durch die Zworgensen lautlos durch den Wald schleichen, verhinderte nun ihre Trauer um Bärbelanda jedes laute Wort. So glichen sie einem Trauerzug, als sie den Turm des Altvaters erreichten. Wie der Altvater sie geheißen hatte, nahmen sie die Tafel aus ihrem Versteck am Turm. Sie war aus Schieferstein und vor Urzeiten hatten Weise die Regeln der Freiheit eingeschlagen.

Schnell machten die Kiju sich wieder auf dem Weg, denn der späte Herbsttag drohte sich seinem Ende zuzuneigen und nur heute konnte der Bann der Unfreiheit gelöst werden. Sie betraten nun den alten Karawanenweg und selbst die mutigsten der Kiju drehten sich immer wieder um, denn allenthalben glaubten sie die Schreie der auf diesem Weg gestorbenen zu hören.

Einer der Diktatoren, der auch das Absentieren der Zworgensen zu verantworten hatte, ließ diesen Weg anlegen. Er wollte so besser seine Grenzen kontrollieren können und sah auch die Möglichkeit, die Zworgensen in seine Gewalt zu bringen. Nichts hatte er erreicht. Hunderte starben bei dem Versuch, dem Fluch der Diktatur zu entrinnen und andere folgten nur halbherzig der Weisung des Diktators, die Zworgensen zu arrestieren. Immer noch konnte man die Gepeinigten auf diesem Wege wandeln sehen, die immer noch auf die Befreiung ihrer Seelen hofften.

Sie hetzten über den Weg, denn nicht nur die Dunkelheit, sondern auch ihre Angst vor den Geistern der Nacht drängte sie ihrem Ziel entgegen. Der Schieferfels wurde scheinbar immer schwerer, aber sie durften ihn nicht absetzen, denn weiter, immer weiter ging der wilde Marsch. Und plötzlich tauchte er im letzten Sonnenlicht auf – der See der armen Seelen. Hier hatte der gnadenlose Diktator von seinen Untertanen Fels brechen lassen, auf dass er den Karawanenweg befestigen konnte. Unbarmherzig wurden die Menschen zur Fronarbeit gezwungen und tiefer und tiefer schlugen sie sich in das Herz der Erde. Die Zworgensen sahen, wie der Diktator der Natur immer mehr Wunden schlug. Ihre Existenz war tief mit der Natur verwoben und uralte Zauber ließen eine ergiebige Quelle aufbrechen, die den Steinbruch mit kaltem und tiefschwarzen Wasser volllaufen ließ. Keiner der unschuldigen Arbeiter konnte entkommen und wochenlang konnte man Frauen und Kinder um ihre Männer und Väter weinen hören.

An der steilsten Stelle des Ufers hielten sie an, legten die steinerne Stele ab und knieten nieder. Nach langer Zeit des Schweigens ließen sie den Gedenkstein ins Wasser rutschen. Bevor sie wieder aufstehen konnten, begann das Wasser zu leuchten und die armen Arbeiter entstiegen ihrem nassen Grab. Ebenso erklangen vom Karawanenweg laute Rufe und lang verschwundene, fielen sich in die Arme. Die Regeln der Freiheit hatten die Kraft der Diktatur gebrochen und Eingeweihte erzählten später, dass sich ein Nebel um den Hals des Diktators gelegt hätte und im Dunst hätte so manch einer viele Hände erkennen können.

So hatten die Kiju aus Thüringa das Land gerettet, denn der Karawanenweg hatte seine böse Bedeutung verloren und heute dient dieser Weg der Erbauung und als Mahnmal, niemals unlauteren Götzen zu folgen.

Die Zworgensen hatten wohlwollend die Tat der Kiju verfolgt und in ihrer Dankbarkeit Bärbelanda freigegeben. Als die Kiju glücklich und erschöpft ihr Lager erreichten, trat Bärbelanda aus der Reihe der Zurückgebliebenen und ward von allen mit Freude umfangen.  

 

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