Wanderung 3: (23.10.2018)

Irgendwie war es überraschend. Als wir am Morgen aus dem Haus traten, war es bitterkalt. Tau hatte die Autos benetzt und Bänke und Tische waren, obwohl sie unter einem großen Überdach standen, klitschnass. Der Sommer war nicht nur wunderschön, sondern auch sehr lange und irgendwie hatte man sich schon so an ihn gewöhnt, dass man sich kaum noch vorstellen konnte, dass er enden würde. Selbst in der letzten Woche konnte man durchaus in einem T-Shirt durch die Fußgängerzone laufen. Klar, abends musste man in einer dickeren Jacke im Biergarten sitzen. Aber die letzte sommerliche Chance, Menschen beim Paarlauf in der City vom bequemen Stuhl aus zu zusehen, ließen jeden die vermeintliche Qual eines mittlerweile ungewohnten Bekleidungsstückes vergessen. Aber nun hatte der Winter den Herbst überholt und ließ uns im Morgentau zittern und frieren.

Trotzdem ließen wir uns nicht abschrecken und nach den ersten warmen Getränke, es wurde Tee, Kakao und nur für die Pädagogen Kaffee gereicht, sah die Welt schon fröhlicher aus und man hätte sich einbilden können, der Herbst hätte uns nun doch noch erreicht.

Da wir die Halle für zwei Tage benutzen dürfen, mussten wir heute Morgen nicht das gesamte Material verpacken. Wir konnten nach einem zugigen Frühstück den Kolonnenweg unter die Füße nehmen. Es hätte ein sehr schöner Tag werden können, aber der einsetzende Nieselregen drang durch jede Ritze und viele Wanderer klagten über nasse Füße. Es war, als forderte die Natur ihren Tribut und würde uns für die Möglichkeit der Wanderung auf dem Kolonnenweg maltretrieren wollen. Doch keiner wollte sich eine Blöße geben und tapfer schlugen wir uns durch die sprichwörtlichen Büsche. Häufig schlug auch heute die Stimmung um, denn immer wieder erinnerten Mahnschilder an den Unrechtsstaat, in dem die Menschen verwundet oder sogar getötet wurden. Die Perversion wurde auf die Spitze getrieben, indem die Grenzsoldaten nicht nur einen Schießbefehl, sondern nach einem erfolgreichen Schuss auch noch einen Orden erhielten. Irrtümer waren an der Tagesordnung und viele Familien verloren ihren Vater, weil dieser »versehentlich« erschossen wurde; zurück blieben Witwen und Waisen.

Wir kämpften uns weiter über den Kolonnenweg und irgendwann störte uns auch das Wetter nicht mehr. Kinder, Jugendliche und auch Pädagogen wanderten fröhlich schnatternd durch die Natur und manches Wild wird sich erschreckt über die wilde Horde ins rettende Gebüsch verdrückt haben.

Die alles entscheidende Prüfung lag ja noch vor ihnen und wie lässt sich Aufregung und Angst besser unterdrücken, als ein bagatellisierendes Gespräch mit den Leidensgenossen; und alle hatten schon von der bevorstehenden finalen Strecke dieser Etappe gehört, die Dr. Reiner Cornelius in seinem Buch »Wandern im wilden Deutschland« wie folgt beschreibt: »Den größten Teil der Etappe wandern wir über den Schwemmfächer der Steinach, auch Lindner Ebene genannt. Am oberen Ende des Fächers breitet sich die Spielzeugmacher-Stadt Sonneberg aus. Nahe der Stadt wartet der einzige Anstieg der Etappe auf uns – und der hat es in sich!«

Mit der Furcht im Nacken begannen wir den Anstieg. Und allen Unkenrufen zum Trotze schafften wir den Anstieg und erreichten müde, erschöpft und nass aber stolz das Ziel. Dort warteten die Busse, die uns in mehreren Touren zurück zum Lager brachten.

Alle genossen den Luxus von heißen Duschen und ließen sich das folgende Mahl schmecken. Selbst im Laufe des Lebens ergraut und froh, auf einem Stuhl sitzen zu dürfen, beobachtete ich die Kinder und Jugendlichen die nun aufdrehten. Eben noch zu Tode erschöpft, tobten sie durch die Halle, während andere sich draußen noch zum friedlichen Wettkampf im Rahmen eines Fußballspiels treffen. Sollte ich jemals so gewesen sein, was ich natürlich nicht glaube, kann ich mich daran nicht mehr erinnern.

Irgendwann war das Geschirr gespült, der morgige Tag geplant und die letzten Gespräche geführt und alle merkten, dass wir uns in der Republik des Sandmannes befanden, denn dieser hatte Eimerweise sein Schlafpulver auf und über uns verstreut und die Augenlider entwickelten eine eigene Dynamik.

Aber bevor mir auch die Augen zufallen, muss ich dringend noch klären, ob ich auch so…!