Wanderung 1: (14.10.2019)

14.10.2019

Am Morgen war es ruhig, viel, viel ruhiger als gestern. Waren dort noch Erlebnisse und Erfahrungen zu besprechen, passte der Schlafsack plötzlich nicht mehr oder war noch unbedingt etwas mit den Pädagogen zu besprechen – die Kinder kamen nicht zur Ruhe und daher war es mit der Ruhe der Erzieher auch nicht weit her.

Gegen 7:30 h hatten wir so etwas wie eine späte Revanche. Nachdem wir das Frühstück vorbereitet hatten, weckten wir die Nachtschwärmer, die uns mit großen Augen ansahen. Ein großes Kramen und Lärmen begann und trieb auch die letzten Schläfer von ihrem Lager. Das Frühstück weckte die Lebensgeister und schnell setzte ein Geplapper ein, dessen Inhalt wohl nur Eingeweihten verständlich war und sich mir zur Gänze verschloss.

Wenig später wurde das Frühstück beendet, die letzten Rucksäcke gepackt und wir trafen uns zu einem letzten „Impuls“, den unsere Heimleiterin als Mitwanderin gab bzw. vorlas. Danach bestiegen die Wanderer zwischen den Welten den Bus, und wir fuhren sie zum letztjährigen Zielpunkt, der heute unser Startpunkt werden sollte.

Es konnte nur ein sehr schöner Tag werden, denn die Sonne stand jetzt schon deutlich sichtbar an einem blauen, wolkenlosen Himmel. Ihre Strahlen streichelten warm unsere Haut und ließen die nächtliche Nässe als wabernden Nebel von Feldern und Wiesen aufsteigen. So ließ es sich wohlfeil wandern und schnell verschwand die fröhliche Gruppe in der Ferne. Zu dritt blieben wir bei den Bussen zurück und fuhren dann entspannt zurück ins Lager, wo die ein oder andere Arbeit auf uns wartete.

Manch junger Mensch wird sich über die folgenden Zeilen amüsieren. Soll er ruhig und wahrscheinlich hat er das gleiche Recht wie ich es hatte, als ich meinem logischerweise mir per se uralt erscheinenden Vater die Aufnahmetaste eines Kassettenrekorders erklärte.

Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit gelernt, wie man eines dieser neumodischen Kommunikationsmodule als MP3 – Player benutzen kann. Für mich ein Quantensprung, denn nie hatte ich einen MP3 – Player besessen. So war es mir möglich, ohne jeden großen Aufwand, Musik zu hören, deren Klänge mich durch die bergige Landschaft Bayerns begleitete.

Wie schon beschrieben, sind wir auch in diesem Jahr in den Herbstferien unterwegs und wieder nahmen mich die bunten und leuchtenden Farben der in Herbstlaub gewandeten Bäume gefangen. Die Musik von Mark Knopfler begleitete mich auf dieser kurzen Reise, die schnell für mich eine Zeitreise wurde. Schon als junger „Erwachsener“ hörte ich diesen Sänger, der mich auf vielen Reisen begleitete. (Natürlich nur auf den Kassetten für meinen Walkmen). Nun waren mir die Nachrichten zur Weltpolitik und auch die ewigen Streitigkeiten der beiden deutschen Staaten DDR vs. BRD sehr wichtig, zumal viele Menschen irgendwie Angst vor einem globalen Krieg der sogenannten Atommächte hatten. Andererseits war ich jung und was scherten mich die jungen Menschen in der DDR, die mir oft so fern waren wie die Astronauten, die wenige Jahre zuvor auf dem Mond herum hüpften.

Doch irgendwie triggerte mich Mark Knopfler und meine Gedanken wanderten zurück in die Zeit, als ich begann, seine Musik zu hören. Die hohen Herren hatten kein Interesse daran, dass die eigene Jugend „Dire Straits“ hörte und sich so eventuell noch mehr von den Zielen und Idealen der DDR lossagen würde.

Jetzt, dreißig Jahre später, fuhr ich durch eine wunderschöne Landschaft, in der auch damals viele junge Menschen lebten und liebten. Und ich fragte mich heute, wie es wohl hier zu dieser Zeit gewesen sein mochte. Junge Menschen wollen hüben wie drüben ihre Zukunft selbst planen. Wollen sich durch ihre Eltern und schon mal gar nicht durch den Staat vorschreiben lassen, wie ihr Leben später auszusehen hat. Und all dies ist hier passiert. Selbst die Musik wurde in der DDR weitestgehend reglementiert und beliebte Gruppen wie Karat, City oder auch die Puhdys mussten kritische Ansichten in ihren Liedtexten kaschieren, da sie sonst verboten worden wären. Irgendwie fällt mir immer George Orwell ein, der mit seinem Buch 1984 einen totalitären Staat beschrieb, der mit allen Mitteln seine Bürger manipulierte und drangsalierte.

Mittlerweile erholt sich das Land und auch die Dörfer und Städte von der viele Jahre andauernde Misswirtschaft. Ob sich die hier lebenden Menschen jedoch von manchen nagenden Erinnerungen lösen können, vermag ich nicht zu sagen und selbst der Versuch es zu tun, würde in meinen Augen mehr als überheblich erscheinen.

Während wir zu dritt einkaufen, aufräumen und kochen, wanderte die fröhliche Gruppe auf dem Kolonnenweg. Die Sonne brannte mittlerweile heiß auf die Gruppe nieder und fast alle versteckten sich während der Pause im Schatten. Immer wieder sahen sie die Zeichen der Grenze. Ruinen der alten Wachtürme und auch kleine Kasernen, in denen die Grenzsoldaten ihren Dienst für die DDR taten und verhinderten, dass ihre Mitbürger über die Grenze in die BRD flüchteten.

Und schon gegen 16:00 h rief uns Matthias Kemp an; nach 18,4 km hatte die Gruppe geschlossen das Ziel erreicht und bat uns um Abholung. Wie immer gab es ein großes Hallo, als wir mit den Fahrzeugen vorfuhren. Da wir auch heute nochmals bei unserem gastfreundlichen Fußballverein nächtigen durften, mussten wir den Shuttleservice in Kauf nehmen.

Einmal an dem Platz angekommen, wurde ein Ort der Ruhe schnell zu einem Hort von tobenden, schreienden und ausgelassen spielenden Kindern und Jugendlichen. Erst zum Abendbrot kehrte leidlich Ruhe ein, denn nachdem die 51 hungrige Mäuler gestopft waren, machten sich die Augenlider von vielen kleinen Helden und Heldinnen selbständig und fielen immer wieder, wie von Geisterhand gezogen, zu.

Es wäre zumindest geflunkert, würden die Pädagogen behaupten, sie würden die langsam einkehrende Ruhe nicht genießen. Denn jeder weiß, wie die Geister sich benehmen: Sind des einen Augen einmal zu, wenden sie sich dem nächsten zu!